Mehr als Style: Wie Kultur das Verhältnis zu unseren Haaren prägt

Der erste Eindruck zählt, so viel steht fest. Was wir von einem Menschen halten, entscheidet sich oft innerhalb von Sekundenbruchteilen anhand seines Looks: Wenn jemand auf uns zukommt, sehen wir ihn oder sie schließlich lange bevor wir ins Gespräch kommen. Neben unserer Kleidung und unserer Haut ist daher auch unser Haar oft ausschlaggebend dafür, wie wir von unseren Mitmenschen wahrgenommen werden.

Unsere Haarfarbe und -struktur und vor allem unser Styling verraten dabei eine ganze Menge über unser Leben. Sie sind Ausdruck unseres ganz persönlichen Sinns für Ästhetik – und sie lassen durchscheinen, wo wir uns zu Hause fühlen, denn die Kultur, in der wir leben, prägt auch unser Verhältnis zu unserem Haar.

In diesem Artikel nehmen wir Dich mit auf eine Reise durch die Jahrhunderte und in alle Welt. Lass uns gemeinsam der Frage nachspüren, warum unsere Haare und unsere Art, sie zu tragen, so viel mehr sind als nur ein Style: In unserer Frisur spiegeln sich Zeitgeist, Kultur und nicht zuletzt auch die großen Meilensteine unseres Lebensweges.

Was unsere Frisur über unser Leben sagt: Drei Perspektiven auf Frauenhaar

Gerade als Frauen wissen wir nur zu gut, dass unser Erscheinungsbild unter ständiger Beobachtung steht. Wir vergleichen uns selbst und einander mit den Schönheitsidealen unserer Zeit und stellen immer wieder fest, dass unser Look mehr ist als nur reine Ästhetik: Wie wir uns kleiden, schminken und frisieren, ist immer auch ein Statement, mit dem wir die Schönheitsideale und Rollenbilder unserer Zeit annehmen oder brechen.

Hier sind drei Bedeutungen von Haar und Style, die Frauen aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen miteinander und vielleicht auch mit Dir verbinden.

1. Langes Haar als Symbol der Weiblichkeit

Ob Pixie Cut oder Chopped Bob, Undercut oder Buzzcut: Sich einmal im Leben an eine Kurzhaarfrisur zu wagen und damit den eigenen Look komplett zu verändern, ist ein Traum, den viele Frauen hegen. Ihn zu verwirklichen kostet allerdings einige Überwindung – und das nicht nur, weil ein kurzer Haarschnitt alle Blicke direkt auf unser Gesicht lenkt. Viele Frauen trauen sich auch in unserer modernen Gesellschaft nicht so recht, sich von einem langen Zopf zu verabschieden, weil sie fürchten, dass ein kürzerer Schnitt „zu männlich“ wirken könnte.

Langes, dichtes Haar gilt in ganz unterschiedlichen Kulturen seit jeher als ultimatives Symbol für Weiblichkeit – und zwar als eines, das nicht nur erwartet, sondern auch als Teil eines Rollenbildes durchgesetzt wird. Machen wir doch einen kleinen Sprung in der Zeit: Im ersten Korintherbrief der Bibel wurde Frauen und Männern vorgegeben, wie sie ihre Haare zu tragen hatten. Kein Wunder also, dass in den christlich geprägten Teilen Europas sowohl der Bubikopf für Frauen als auch die Löwenmähnen der Hippie-Männer eine regelrechte Style-Revolte bedeuteten.

Während die langen Haare der Frau als eine Art wertvolles Juwel galt, das zu hüten war, konnten sich die Herren der Schöpfung eine Langhaarfrisur nicht erlauben. Anders als heute wurden Männer, die ihren Schopf am liebsten lang trugen, als „verweiblicht“ betrachtet. Frauen hingegen haben mit ihrem Rapunzel-Haar ein Statement gesetzt, dass ihre Rolle in der Gesellschaft festigte. Ein Pixie-Cut à la Audrey Tautou? - zu dieser Zeit ein absolutes No-Go.  

Geschlechterstereotypen waren also eine ernsthafte Angelegenheit und der Gender-Shift, den wir heute erleben, völlig undenkbar. Wer sich dennoch traute, Tabus zu brechen, wurde nicht nur ausgegrenzt, sondern musste auch mit einem geschorenen Kopf rechnen. Da der Buzz-Cut seine Beliebtheit, die er heute genießt, damals noch nicht erlangt hatte, gaben die Damen am Ende doch nach und bedeckten ihren Kopf mit einem Tuch - schließlich will niemand die Blicke auf eine Frisur ziehen, die als Strafe gilt.

2. Haar als Inbegriff weiblicher Verführung

Das weibliche Haar gilt in vielen Kulturen als Reiz, der eine schon beinahe verzaubernde Wirkung auf Menschen hat. Wie eine Truhe voller Schätze, die uns in ihren Bann zieht und vor bösen Augen geschützt werden muss. Hijab, Niqab und Burka sind einige der Begriffe, die uns in den Sinn kommen, wenn wir von der verführerischen Wirkung der weiblichen Haarpracht sprechen. Doch nicht nur muslimische Frauen, sondern auch gläubige Christinnen und Jüdinnen hüten ihr Haar vor fremden Blicken.

Setze ein Statement mit deinem Stil - ikoo hair

Ein cleaner und unauffälliger Stil ist das Markenzeichen vieler Hijabis.

Im Mittelalter hätte dein Hairstyling wahrscheinlich sogar im Stadtrat für Krawall gesorgt. In Europa war das Tragen einer Kopfbedeckung nämlich durch den besagten Korintherbrief gesetzlich vorgeschrieben - aber wer hält sich schon an Regeln? Adelige und reiche Bürgerinnen zauberten wahre Fashion-Statements, verziert mit Blumen und Edelsteinen, während sich die weniger Wohlhabenden mit Schleier und Haube begnügen mussten. 

Manche dieser Trendstücke waren bereits im Mittelalter so protzig, dass böse Zungen behaupten, manche Königin habe in ihrem Palast die Durchgänge zwischen den Zimmern erweitern müssen, um nicht ständig mit ihrem Kopfschmuck gegen den Türrahmen zu stoßen.

Nicht nur Musliminnen, sondern auch orthodoxe Jüdinnen schlagen die Brücke zwischen religiöser Praxis und individuellem Stil übrigens bis heute. Anstelle eines Kopftuchs greifen letztere allerdings oftmals auf Perücken zurück. So können sie das eigene Haar im Alltag vorschriftsgemäß bedecken, ohne dabei ihre religiöse Praxis zum sichtbaren Thema zu machen oder auf ihre Lieblings-Hairstyles zu verzichten.

3. Einen Zopf abzuschneiden ist eine große Entscheidung

Wenn Du schon einmal von der langen Mähne zum frechen Kurzhaarschnitt gewechselt hast, kennst Du vielleicht das merkwürdige Gefühl, wenn Du zum ersten Mal in den Spiegel schaust und Dich selbst kaum wiedererkennst. Indem wir unsere Haare abschneiden, verändern wir nicht nur das Bild, das andere von uns haben, sondern auch unsere Selbstwahrnehmung. Und genau deshalb greifen Menschen in aller Welt beherzt zur Schere, wenn sie das Bedürfnis haben, ihr Leben umzukrempeln.

Langes Haar - ikoo hair

Langes Haar hat in vielen Kulturen einen spirituellen Wert.

Uns von etwas zu trennen, das wir jahre- und vielleicht sogar jahrzehntelang als unser größtes Schmuckstück gehegt und gepflegt haben, ist ein großer Schritt. Aber genau diese innige Verbindung zu unserem Haar macht einen langen Frauenzopf seit jeher zu einem ganz besonders persönlichen Opfer. Ein bekanntes Beispiel dafür, wie diese Geste zum Symbol für den Neustart werden kann, ist das sogenannte Tempelhaar. An hinduistischen Pilgerstätten in ganz Indien lassen Gläubige sich das Haar abschneiden – als Opfer, das für einen Wunsch, zur Bekräftigung eines Gelübdes oder einfach zum Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Ein ähnlich eindrucksvolles Beispiel dafür, wie das Abschneiden eines langen Zopfes in den Mittelpunkt eines Übergangsrituals rückt, finden wir im Süden Chinas. In der Tradition der Yao sind lange Haare ein Symbol für Reichtum und langes Leben. Aus diesem Grund wird der Übergang einer jungen Frau ins Erwachsenenleben mit einem zeremoniellen Haarschnitt markiert, gewissermaßen als Reset, mit dem das Leben erst richtig beginnt. 

Eine gewagte Entscheidung - auch wenn wir wissen, dass wir unsere lange Haarpracht mit der richtigen Pflege zurückbekommen können, wünschen wir uns oft, die Zeit zurückdrehen zu können, wenn der Friseur ein paar Zentimeter zu viel weggeschnitten hat. Nach dieser Zeremonie greift eine traditionell lebende Yao-Frau übrigens nie wieder zur Haarschere: Ihr Zopf ist fortan ihr persönlicher Schatz. 

Dein Haar als Chronik: Was prägt Deinen Stil?

Nichts zeigt so deutlich, wie Zeit und Kultur unsere Hairstyles beeinflussen, wie ein Blick ins Fotoalbum. Kannst Du bis heute mit geschlossenen Augen einen Zickzack-Scheitel ziehen, weil das einfach Dein Look der späten 90er war? Hast Du in den 2000ern mit Blocksträhnchen und gekrepptem Haar experimentiert, nur um in den 2010ern Ombré und Undercut für Dich zu entdecken? Und wie sieht es mit den persönlichen Gründen für ein Makeover aus: Hast Du Dir schon einmal die Haare abgeschnitten, um ein neues Kapitel aufzuschlagen, sei es nach einer Trennung oder nach dem Umzug in eine fremde Stadt?

Auch wenn wir alle dieses eine Foto haben, bei dessen Anblick wir zumindest innerlich ein ganz klein wenig zusammenzucken, weil wir diesen einen Trend heute nicht mehr mitmachen würden: Lasse uns stolz auf all die großen und kleinen Style-Experimente zurückblicken. Jede Haarfarbe, jede neue Frisur und jedes heißgeliebte Accessoire war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu der Person, die Du heute bist – und allein die Tatsache, dass wir so verschiedene Dinge ausprobieren können, zeigt uns deutlich, wie sehr sich unsere Gesellschaft verändert.

Während die Generation unserer Großmütter nur aus weiter Ferne mit ausgefallenen Styles flirten durfte, können wir uns heute in unseren Lieblingssessel im Friseursalon fallen lassen und das Gefühl genießen, dass von Silbergrau bis Schwarzblau und vom langen Zopf bis zum Buzzcut alles erlaubt ist, was unser Lebensgefühl in diesem Moment am besten zum Ausdruck bringt.


Titelbild von RF._.studio. Weitere Bilder von Good Faces und Masha Demyanko.